Im Märchenwald

Wer sich im Sommer 2007 auf einen Wanderritt einlassen wollte, musste eine gehörige Portion Optimismus, Durchhaltevermögen, wirklich dichte Regenkleidung und einige akrobatische Fähigkeiten besitzen.

Vier Reiter fanden sich dennoch Anfang September zusammen und starteten trotz schlechter Wetterprognose zu einem Rundritt durch den südlichen Spessart. Mit dabei zwei Berberstuten, ein andalusischer Hengst und der Kaltblut-Araber-Wallach von Gerhard Madre. Gerhard hatte den Ritt organisiert und sich zudem bereit erklärt, die Rittführung zu übernehmen.

Ausgangspunkt des Rittes war der Hof von Familie Madre in Flörsbach-Mosborn. Dort trafen die Teilnehmer am Vorabend nach und nach ein und wurden mit herzlicher Gastfreundschaft und einem delikaten Wildessen empfangen, derweil die Pferde sich in ihren Paddocks bei einer Ration Heu von der langen Fahrt erholten und erste Kontakte untereinander knüpften.

Nach einer Nacht in liebevoll hergerichteten Gästezimmern und einem üppigen Frühstück machten wir uns ans Satteln. Keine leichte Aufgabe angesichts der Tatsache, dass uns kein Trosswagen zur Verfügung stand, was bedeutete, unser gesamtes Gepäck am Pferd mitzuführen.

Bis alles verstaut, gleichmässig verteilt und festgezurrt war (in den folgenden Tagen sollte sich Routine einstellen und das Packen viel flotter von der Hand gehen), wir endlich im Sattel sassen und unter Abschiedsrufen frohgemut vom Hof klapperten, war es später Vormittag. Wir ritten auf ausgeruhten Pferden aus dem kleinen Weiler in einen trockenen, sonnigen Tag hinein und unsere Hoffnung auf einen schönen Spätsommerritt stieg – ungefähr eine Stunde lang. Dann setzte ein erster Schauer ein. Noch stiegen wir vom Pferd, um unsere Regenmäntel überzuziehen, später vervollkommneten wir die Fertigkeit, im Schritt und auch im Trab hinter uns zu greifen, Regenmäntel loszuschnallen, überzuziehen, zu schliessen – um sie nur wenig später, wenn die Wolkendecke aufriss und die Wachschicht unserer Mäntel unter den Strahlen der Septembersonne zu schmilzen drohte, uns dieser wieder zu entledigen, zusammenzurollen und hinter uns auf die Sattel zu binden – wohlgemerkt – ohne nennenswerte Unterbrechung.

Bald gaben wir auf, mitzuzählen, wie oft sich dieser Vorgang wiederholte.

Lucia Yuen und Karolle, Petra König und Nefsia
Lucia Yuen und Karolle, Petra König und Nefsia

Die Landschaft hingegen war grossartig. Wir ritten stetig bergan. Tiefe und doch lichte Buchenwälder wechselten mit Lichtungen, die den Blick auf grüne Täler und weitere Bergketten dahinter freigaben. Gerhard machte uns auf eine historische Glashütte aufmerksam, die verborgen hinter Dickicht schlummerte. Nach einem prägnanten Exkurs von Gerhard (in dem wir überhaupt einen genialen Spessart-Kenner gefunden hatten) über die Bedeutung der Spessarter Glashüttenära ging es weiter bergan und tiefer in den Wald hinein, auf einem uralten Handelswege, der sich um Bergkuppen, durch Mulden, über Wiesen und Felder schlängelte. Oft, vor allem wenn es steil bergab ging, stiegen wir ab und liefen ein paar Kilometer neben den Pferden her, was Zweibeinern und Vierbeinern sichtlich gut tat. Erstaunlich, wie gut die zwei Stuten, der Wallach und der Hengst von Anfang an harmonierten. Zwar warf der Andalusier manch begehrlichen Blick zu der Weiblichkeit hinüber, doch war er bestens erzogen, zudem hatte ihn seine Reiterin Heide fest im Griff. Auch der pfiffige Australian Shepherd von Petra fügte sich nahtlos ein und folgte seiner Herrin fröhlich und unermüdlich bergauf, bergab, immer auf der Hut, nicht unter die vielen Hufe zu geraten.

Meine Stute Karolle, die noch nie zuvor in den Bergen unterwegs war, machte ihre Sache tadellos - solange es bergauf ging. Hinunter allerdings hatte sie mit dem Sortieren ihrer Beine eine Menge Schwierigkeiten, weshalb sie an steilen Abstiegen immer wieder ins Zockeln geriet. Am nächsten Tag hatte sie den Bogen jedoch schon raus.

Es war am späten Nachmittag des ersten Tages, wir bewegten uns auf einem der unzähligen Höhenzüge und noch etliche Kilometer von unserem Nachtquartier entfernt vorwärts, als sich der Himmel schlagartig verfärbte und kaum einen Atemzug später scharfe Windböen eine undurchsichtige Regenwand vor sich herpeitschten, so dass uns so gut wie keine Zeit mehr blieb, uns in unsere Regensachen zu stielen. Wie Kaskaden stürzte das Wasser auf uns nieder, prasselte auf den Weg, spritzte von dort zurück bis an die Brust der Pferde. Mit eingezogenen Köpfen kämpften wir uns vorwärts. So ähnlich mussten sich einst die Ordensritter im dunklen Mittelalter gefühlt haben, die ungeachtet jeder Widrigkeit, kreuz und quer durch Europa bis hin zum Baltikum gezogen waren.

Dann trafen uns die ersten Hagelkörner – und weit und breit nichts, wo wir hätten Schutz finden können. Die Pferde machten aus ihrer Perspektive gesehen das einzig Richtige: sie weigerten sich weiterzugehen, drehten ihre Hinterteile in den Wind und warteten ergeben auf das Ende der Vorstellung. Den Reitern blieb ebenfalls nichts anderes übrig, obwohl es schon ein wenig gruselig war dort oben (auch wenn es „nur“ die fünfhundert Meter hohen Spessartberge waren) schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert zu sein. Nach unserem Geschmack eine Portion zu viel „Natur pur“, und so verspürten wir alle eine gewisse Erleichterung, als das Unwetter, so plötzlich wie es uns heimgesucht hatte, hinter den nächsten Bergkuppen verschwand. Nass wie die Katzen erreichten wir unser erstes Quartier.

Die nächsten Tage führten uns erneut über alte Handelswege. Wir durchstreiften grüne Täler mit hübschen Dörfern und Städtchen, kehrten zur Mittagsrast in manch netter Strausswirtschaft ein, bevor es erneut die nächsten Berge zu erzwingen galt, auf deren Gipfeln grossartige Panoramen auf uns warteten. Dann drangen wir wieder in tiefe, einsame Wälder vor. Hier sollten sich laut Gerhard im Mittelalter die Räuberbanden nur so getummelt haben, und wir hielten eifrig Ausschau nach ein paar stattlichen Räuberhauptmännern, vielleicht hatte sich ja der eine oder andere in die Gegenwart gerettet? Doch abgesehen von einigen kettensägebewehrten Waldarbeitern stiessen wir auf keine finsteren Gesellen.

Ein Höhepunkt unseres Rittes erwartete uns am dritten Tag, als wir Schloss Mespelbrunn, besser bekannt als „das Spukschloss im Spessart“ erreichten – ein wunderhübsches, liebevoll gepflegtes Schlösschen mit verspielten Zwiebeltürmchen, das verträumt hinter einem Wassergraben schlummerte. Wir hatten die Möglichkeit, bis in den Innenhof zu reiten, wo wir einiges Aufsehen erregten. Bereitwillig kamen einige Besucher unserer Bitte nach, ein Gruppenfoto von uns zu machen.

Nur ein paar Schritte weiter fanden wir das „Wirtshaus im Spessart“. Doch Gerhard, der Insider, beraubte uns auf der Stelle unserer Illusion, handelte es sich hierbei doch keineswegs um das „Original“. Egal, hübsch alt sah es trotzdem aus.

Und immer wieder Regen, Regen, Regen! Manch versprochener Fernblick wurde Opfer der tief hängenden, bleiernen Wolkendecke. Welch eine Wonne, wenn die Sonne hin und wieder Mitleid zeigte, zwischen den Wolken hervorblitzte und Hügel, Wiesen und Wälder in helles Licht tauchte. Dann offenbarte sich die wahrhaftige Schönheit dieser Region.

Schlisslich stiessen wir auf den Schneewittchenweg. Hier soll die märchenhafte Schönheit mit ihren sieben Zwergen gehaust haben. Und wirklich, wenn die Sonne durch die Wolken brach und helle Strahlenbahnen durch das lichte Buchenlaub schickte, wenn die plötzliche Wärme dunstige Schwaden hervorrief, die die Stämme der uralten Baumriesen umwaberten, erstand mit einem Mal ein mystischer Zauberwald und es bedurfte nicht viel Fantasie, sich kleine boshafte Trolle und Kobolde vorzustellen, die sich auf der Suche nach neuen Streichen durchs Unterholz drückten und zarte, auf Lichtungen Reigen tanzende Elfen kichernd beobachteten.

Und man sah sie förmlich vor sich: Die sieben Zwerge, wie sie im gleichschrittigen Gänsemarsch, mit winzigen geschulterten Schaufeln und Pickeln, mit einem rhythmischen „Uffta, Uffta“ auf den Lippen die Steilhänge erklommen…

Kaum zu glauben, aber der letzte Reittag hatte wettermässig noch eine überraschung im Gepäck – wir kamen in ein schreckliches Gewitter, das direkt über unseren Köpfen nur so explodierte und wir wurden (zum wievielten Male?) nass, nass, nass! Zum Glück wartete im nächsten Dorf Gerhards Schwager mit einer herrlichen Brotzeit und einer warmen Behausung auf uns. Nachher waren wir so träge, dass es uns schwer fiel, wieder in unsere nassen Schuhe zu steigen um die letzten Kilometer anzugehen. In der Zwischenzeit war das Gewitter vorüber und die Pferde dampften in der warmen Sonne. Über einen steilen Anstieg erreichten wir die restaurierte Burgruine Partenstein und genossen ein letztes Mal einen wunderbaren Rundblick über Hügelketten und die in der Sonne glänzenden roten Dächer des im Tal liegenden Städtchens. Die restlichen Stunden unseres Rittes führten uns durch eine liebliche (leider wieder regenverhangene) Auenlandschaft mit dem munter plätschernden Flüsschen Lohr. Die Pferde legten ein flottes Tempo vor, sie wussten genau, dass es dem Ende zu ging.

Am frühen Abend erreichten wir gesund und munter unser Ausgangsziel, den Hof der Familie Madre.

Fazit: Trotz des abscheulichen Wetters war es ein tolles Reiterlebnis. Der Spessart, ein für Wanderreiter noch weitgehend unbeschriebenes Blatt, bietet landschaftlich alles, was das Reiterherz begehrt. Es gibt keine Reitverbote, man kann jeden Wanderweg benutzen. Unser ganz besonderer Dank gilt Gerhard, der diesen Ritt perfekt vorbereitet hat, sowie seiner Frau Ursel, die uns so liebevoll bewirtete. LUCIA A. YUEN

P.S.: Im nächsten Jahr möchten wir erneut einen Wanderritt planen. Angedacht ist, im Münsterland zu starten und über den Teutoburger Wald oder das Weserbergland nach Sulingen zu reiten, wo das Berbertreffen 2008 stattfindet. Wer hat Lust, sich an der Organisation zu beteiligen oder mitzureiten? Es wäre schön, wenn mehr als zwei Berber zeigen würden, was in ihnen steckt.

Info unter: Lucia A. Yuen, Tel.: (02543) 4925, Mobil: (0173) 6676892; Email: luciaayuen@aol.com